„Du musst fort", sagte eines Tages ein Freund und wusch Martins Schulterwunde mit einem sauberen Tuch, das er zuvor in Branntwein getaucht hatte. „Wenn du bleibst, werden sie dich töten." Martin schüttelte den Kopf. „Alles steht allein in Gottes Hand. Ich werde nicht fliehen. Mein Platz ist hier, wo wir Gottes Wort verkünden."
Der Freund legte einen Brei aus verschiedenen Kräutern auf die Wunde, deckte sie mit einem Tuch ab und verklebte die Ränder mit Harz. „Heute haben sie Pech gehabt, weil ich dir zu Hilfe kam", sagte er ernst „Morgen ist es vielleicht das Ende. Wir brauchen dich noch, Bruder Martin. Du darfst nicht sterben.“
Martin legte den verbundenen Arm in eine Tuchschlinge. „Ich denke darüber nach, Silenius", versprach er. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht sollte ich mich eine Weile aus der Welt zurückziehen und mit Gottes Wort leben."
Martins Wunde heilte nur schwer. Tagelang musste er bei Silenius Zuflucht suchen und sich in dessen Kellern vor den Heiden verstecken, die ihn verfolgten. Eines Abends, es begann schon zu dunkeln, betrat Silenius das Hinterstübchen, wo Martin lag. „Morgen, ehe der Tag bricht, werden die Arianer in Waffen hier sein", sagte er. „Ein Freund meines Vaters ließ es mich wissen. Wenn sie dich bei uns finden, wirst du ans Kreuz geschlagen, und mein Haus wird niedergebrannt. Martin, es ist Zeit Du kannst nicht länger bleiben."
Martin richtete sich auf dem gesunden Arm auf. „Du hast dich lange genug für mich in Gefahr gebracht", murmelte er.
„Gott wird es dir lohnen. Wohin, meinst du, soll ich mich wenden?“ „Eine Fuhre Wein geht diese Nacht noch nach Genua", erwiderte Silenius und half Martin auf die Beine. „Der Fahrer ist mir verpflichtet Er wird dich in einem leeren Fass versteckt aus der Stadt herausbringen. An einem geheimen Ort erwartet dich dort eine Kutsche, sie wird dich bis Genua bringen. Von dort setze heimlich auf die Insel Gallinaria über. Sie ist zwar klein und karg, aber sicher und wird dir Zuflucht bieten."
Martin schlug mit der gesunden Hand den Mantel um sich. „Gut, Silenius. Dein Rat soll mir ein Fingerzeig Gottes sein. Ich danke dir für alles, mein Freund." Das Fieber schüttelte Martin während der ganzen Reise. Es wich erst in Genua von ihm, als er mit einem Fischer handelseinig wurde, der ihn auf Gallinaria asetzen sollte. Von den letzten Münzen, die Silenius ihm zugesteckt hatte, kaufte Martin einen Hahn, drei Hennen, einen Ganter und zwei Gänse, ein Beutelchen Korn und einen Spaten mit festem Blatt. So gerüstet, kam er im Silberschein des Mondes auf Gallinaria an.
Lange sah er dem Boot des Fischers nach, das klein wie eine Nussschale endlich am Horizont verschwand. Martin war nun allein mit seinen Tieren und Gott, dessen Stimme machtvoll aus Meer und Wind zu ihm sprach.
So wurde er zum Einsiedler. Er fand eine Grotte im Fels, in der er sein Lager aus Oleanderzweigen und trockenem Moos bereitete. In der Nähe gab es eine Süßwasserquelle und ein Stück guter Erde für sein Korn. Hühner und Gänse vermehrten sich um die Wette, so dass er bald schon auf Daunen schlafen und seinen Speiseplan aufbessern konnte. Und wenn Martin ins Abendrot sah, um zu beten, scharte sich das Vogelvolk um ihn, als könne es seine Worte verstehen.
Plötzlich aber war die Ruhe dahin. Das erste Zeichen, dass die Zeit der Gebete vorüber sei und neue Aufgaben warteten, kam mit den Träumen, die Martin überfielen. Große Menschenmengen sah er darin, die mit Fackeln durch die Straßen einer ihm wohlbekannten Stadt zogen und seinen Namen riefen. Götzenbilder und heilige Haine mit Tempeln heidnischer Priester zeigten sich ihm, und er sah, wie ein Mann im Bischofsgewand eine Axt gegen sie hob. Dieser Mann aber war er selbst „Lieber Vater im Himmel", rief Martin aus und warf sich in der Grotte auf die Knie, „eine solche Aufgabe kann ich nicht erfüllen. Ich bin zu schwach, Bischof deiner Kirche zu werden."
Doch Gott schickte ihm neue Träume, und Martins Angst wuchs. Eines Morgens sah er sie übers Meer heranrudern, die Flotte aus Fischerbooten mit den Männern, die ausgezogen waren, ihn zu holen. Einen großen Stern führten sie bei sich, der weithin übers Meer leuchtete. Da raffte Martin seine Kutte über die Knie und lief davon. Gackernd stob das Hühnervolk vor ihm auf. Die Gänse aber beugten die Hälse, als grüßten sie einen hohen Herrn.
In seiner Not fand Martin nur Zuflucht in einem engen Holzverschlag, den er unweit seiner Grotte in den Niederholzwald gebaut hatte. Fest zurrte er den Riegel in den ledernen Haken zurück und kauerte sich in der dunkelsten Ecke nieder.
Nicht lange, hörte er die Schritte der Menschen und seinen Namen rufen. Hell fiel der Lichtschein des Sterns ihnen voraus. Doch bis in Martins Winkel gelangte er nicht. Schon wandten sich die ersten enttäuscht zum Gehen, da drang ein Zischen und Schnattern an Martins Ohr, dass er es kaum ertrug. Die Gänse! Wie Soldaten marschierten sie vor, watschelten auf ihren roten Plattfüßen über Stock und Stein und hörten erst auf zu schreien, als die Menschen ihnen nacheilten und der Stern Martins Versteck erleuchtete.
Stumm trat Martin hinaus. Stumm sah die Menge ihn an, denn ein heller Lichtschein lag um seine Stirn.„Hoch lebe der neue Bischof von Tours!" Endlich erhob sich die erste Stimme, und jubelnd fielen die anderen mit ein.
Die Gänse aber, die Martins Versteck verraten hatten, brieten am selben Abend noch über offenem Feuer am Spieß.
Und bis heute durchzieht am 11. November der Duft nach Gänsebraten Haus und Hof, um an Martin, den heiligen Bischof von Tours, zu erinnern.
(Nach einer römischen Legende) |